Reise Dokus gesucht :-)
Nachdem ich nicht viel Reisen kann, schau ich mir gern solche Filmchen an
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Christoph Reuter und Thore Schröder :
Afghanistans neue Machthaber
Wie die Taliban armen Dorfbewohnern ihr Land rauben
In einer abgelegenen Bergregion hat die Herrschaft der Taliban dramatische Folgen: Die mächtigste Ethnie, die Paschtunen, nimmt den schiitischen Nachbarn Haus und Hof. Es könnte ein Vorbote ethnischer Säuberungen sein.
Aus Daikundi berichten Christoph Reuter und Thore Schröder
02.10.2021, 17.15 Uhr • aus DER SPIEGEL 40/2021
Über Stunden windet sich die schmale, nur im Schritttempo befahrbare Geröllpiste durch eine Welt aus Fels. Hoch aufragend, zerklüftet, verwittert ragen die kahlen Berge in den Horizont. Vom bleichen Ockerton bis zu granitschwarz changieren die Farben im gleißenden Sonnenlicht, als ob alles Leben hier schon vor langer Zeit erloschen wäre. Einzig ein paar Krähen lassen sich von der Thermik entlang der Steilhänge hochtragen.
So erscheint, was erst klein hinter einer Kurve im Talgrund sichtbar wird, beim Näherkommen umso intensiver: ein smaragdgrün leuchtendes Band aus Bäumen, Feldern und wuchernden Büschen entlang mäandernder Wasserläufe. Ein verstecktes Paradies. Geschaffen über vier Jahrzehnte von den Bauern, die Brunnen und Hunderte Meter unterirdischer Kanäle gruben, um das Tal urbar zu machen.
Doch unten im Tal von Tagabdar, zwischen Granatapfelbäumen, Maisfeldern und Brombeerbüschen, treten die Familienoberhäupter angstvoll vor ihre Häuser. Vor 16 Tagen, so erzählen es der Dorfvorsteher Said Iqbal und mehrere Bauern übereinstimmend, seien die Taliban gekommen, bewaffnet, in mehreren erbeuteten Polizei-Pick-ups. Sie hätten alle Männer zusammengerufen, ihnen ein Ultimatum verlesen: Sämtlichen Bewohnern blieben 15 Tage Zeit, ihr Land, ihre Häuser, alles zu verlassen und zu verschwinden. Der Talboden, den sie seit Jahrzehnten bestellten und den ihnen nie jemand streitig gemacht hat, gehöre ihnen nicht. Sie sollten freiwillig gehen. Sonst kämen die Taliban wieder, würden sie mit Gewalt vertreiben, töten, falls nötig.
»Aber wohin sollen wir gehen?«, habe einer der Männer gefragt. Egal, so antworteten die Taliban, weg, nur weg aus ihrem Garten Eden inmitten der Unwirtlichkeit. Dann fuhren die Taliban wieder. Ihr Ultimatum sei nun vor einem Tag abgelaufen, sagen die Bauern. Ein Teil der 300 Familien, knapp 2000 Menschen, habe Tagabdar bereits verlassen. Die Verbliebenen lauschen mit Furcht auf jedes Auto, das sich aus den Bergen nähert.
Vier Tage nach dem Besuch des SPIEGEL-Teams werden auch sie vertrieben, flüchten sich zu Verwandten in andere Dörfer, Städte, in die Armenviertel von Kabul.
Anfang September hat die brutale Landnahme im Tagabdar-Tal und zwei weiteren Dörfern der Umgebung begonnen. Im Laufe der folgenden Wochen setzt sie sich fort in mehr als einem Dutzend weiterer Dörfer in den schwer zugänglichen Bergen von Daikundi, einer Provinz in Zentralafghanistan. Es ist der mögliche Beginn ethnischer Säuberungen. In Daikundi zeichnet sich ein Konflikt ab, der im ganzen Land zu Vertreibungen und bewaffneten Konflikten führen kann, wenn die größte Ethnie, die Paschtunen, sich durch den Sieg der Taliban ermächtigt fühlt, den Minderheiten Land und Rechte zu nehmen.
Afghanistan ist bereits seit seiner Unabhängigkeit 1919 ein zerrissenes Land, was nicht nur an konfessionellen Unterschieden liegt. Die verfeindeten Völkerschaften Afghanistans zogen immer wieder von Krieg zu Krieg, teils in der ehernen Überzeugung, erlittenes Unrecht vergelten zu müssen. Und schufen damit immer wieder neues Unrecht.
Diesen Teufelskreis müssten die Taliban nun stoppen, wenn sie nicht nur ihre Herrschaft bewahren, sondern überhaupt Frieden im Land schaffen wollen.
Doch bei den Vertreibungen in Daikundi trifft es stets Hazara, Angehörige jener überwiegend schiitischen Minderheit, die von den Taliban schon früher als Ungläubige und Menschen zweiter Klasse betrachtet wurden.
Ihre jüngere Geschichte ist eine der Angst und des Grauens. Die Ethnie stammt mutmaßlich von mongolischen Einwanderern ab, sie macht heute etwa ein Fünftel der afghanischen Bevölkerung aus. Die Hazara leben vor allem in den Gebirgen und Hochebenen Zentralafghanistans.
Einst waren sie zahlreicher und lebten auch anderswo. Aber ihre Leidensgeschichte begann mit den Feldzügen des »Eisernen Emirs« Abdulrahman, der Ende des 19. Jahrhunderts alle Ethnien Afghanistans unter seine Kontrolle und Steuerpflicht brachte. Viele Hazara wollten ihre faktische Unabhängigkeit behalten, rebellierten gegen die Armee des paschtunischen Herrschers aus Kabul, unterlagen und wurden zu Hunderttausenden ermordet, vertrieben oder versklavt. Mehr als die Hälfte der damaligen Hazara-Bevölkerung soll in den Jahren bis 1893 so ums Leben gekommen oder geflohen sein.
In abgelegenen Landstrichen wie in Daikundi, geht es heute abermals um systematische Entrechtung. Und fast immer läuft es nach dem gleichen Muster: Ein Trupp Taliban kommt ins Dorf, trommelt alle Männer zusammen, in die Moschee oder auf dem Dorfplatz. Das Ultimatum wird verlesen, mal sind es 5, mal 9, mal 15 Tage. Dann müsse das Dorf geräumt sein. Sonst würden die Menschen mit Gewalt vertrieben.
Der angekündigte Neubeginn der Taliban verflüchtigt sich
In den ersten Tagen nach der Machtübernahme wurde vielerorts eine neue Milde der Taliban beschrieben, doch sie hört spätestens dort auf, wo niemand hinschaut. Dies scheint das Kalkül der radikalen Machthaber Afghanistans zu sein, die seit dem völligen Kollaps der alten Regierung am 15. August die Herrschaft übernommen haben. In ihren Statements, ihrem Auftreten in den großen Städten, selbst dem Banner über dem wiedereröffneten Flughafen von Kabul geben sie sich in den ersten Wochen konziliant. Der Welt versprechen sie, ein friedlicher Partner zu sein, den Afghanen, für Sicherheit auf den Straßen zu sorgen.
Doch das Bild hat schon viele Kratzer bekommen: Erst die Regierung, die doch fast nur aus lauter Taliban-Mullahs besteht, dann die Bilder aus den Provinzen von ausgestellten Leichen angeblicher Entführer, die Ankündigungen, künftig auch wieder Gliedmaßen zu amputieren für Diebstahl, die Schließung aller Mädchenschulen und der Ausschluss von Frauen aus Universitäten. Der angekündigte Neubeginn verflüchtigt sich, bevor der neue Staat auch nur das erste Gehalt an seine Beamten gezahlt hat.
Und in den abgelegenen Bergen von Daikundi zeigen die Taliban jetzt schon ganz offen ein anderes Gesicht; als hätten sie darauf spekuliert, dass die Bauern still aufgeben würden in ihren isolierten Dörfern, die bis vor wenigen Jahren nur in einem zweiwöchigen Eselsritt von der nächsten Kreisstadt aus zu erreichen waren. Die Paschtunen, die größte Volksgruppe des Landes, der die Taliban entstammen, und die Hazara haben hier seit je nebeneinandergelebt und immer wieder um das knappe Ackerland konkurriert.
Es ist eine traumatische Erfahrung der Hazara selbst aus der jüngeren Vergangenheit, auch für das Unrecht anderer zum Opfer gemacht zu werden. Als im Bürgerkrieg 1997 usbekische Milizen rund um die Stadt Masar-i-Scharif im Norden 3000 Taliban-Gefangene umbrachten, übten die Taliban im folgenden Sommer mörderische Rache an jenen, die sie ohnehin hassten, wenn die Hazara auch mit dem Morden zuvor nichts zu tun hatten: Über Tage zogen Taliban in der Stadt von Haus zu Haus, sie massakrierten mindestens 2000 Menschen, erschossen sie, schnitten ihnen die Kehle durch, feuerten mit Flugabwehrkanonen in Gruppen von Zivilisten.
Die Hazara seien »Kuffar«, Ungläubige, und verdienten den Tod, verkündete der Taliban-Gouverneur Mullah Niazi. Damit ließen sich die eigenen Reihen schließen. Noch Anfang 2001 sprengten Taliban-Kommandos das kostbarste Heiligtum im Gebiet der Hazara: jene weltberühmten, riesigen Buddha-Statuen, die vor mehr als einem Jahrtausend in die Felshänge oberhalb der Stadt Bamian gemeißelt worden waren.
Gegen die Willkür der neuen Machthaber hat der frühere Schuldirektor und Bezirksgouverneur Ghulam Hazrat Mohammadi einen unerwarteten Weg des Widerstands eingeschlagen. Er hat die Dörfler für ein Protestvideo versammelt und es auf Facebook gepostet. Gewonnen ist damit nichts, aber lautlos wollen die Bauern nicht kapitulieren. Es ist eine sehr afghanische Kombination: Wie vor Jahrzehnten wollen Taliban Bauern ihr Land rauben, die es wie vor Jahrhunderten bestellen: die ihr Getreide von Hand dreschen und ihren Pflug von Ochsen ziehen lassen – und die dann aber eine Social-Media-Kampagne starten. Mohammadi selbst ist nach Kabul geflohen, die Taliban suchen ihn, er hält sich in den Vororten der Hauptstadt versteckt.
Zweieinhalb Tage dauert die Reise des SPIEGEL von Kabul bis Tagabdar. Zwei Autos kollabieren nacheinander mit gebrochener Federung und abgerissenem Auspuff bei der Fahrt über schwindelerregende Bergpisten, knirschende Holzbrücken und durch ausgetrocknete Flussbetten. Mobiltelefone funktionieren hier nicht mehr. Selbst für afghanische Verhältnisse ist dieses Gebirgstal ein sehr abgelegener Ort. Was lange Zeit von Vorteil war.
»Niemand hat sich je an uns hier gestört«, sagt der alte Hazara-Bauer Ya Mohammed, dem das letzte Grundstück voller Maulbeer- und Mandelbäume im Tal gehört. Dahinter endet das Grünland abrupt, setzt sich das Tal noch einige Hundert Meter als leblose Geröllwüste fort bis zu den Felshängen: »So sah das überall aus, als ich vor 38 Jahren hierherkam aus einem Dorf in der Nähe.«
Jahrelang hätten sie mit Schaufeln, Spitzhacken und Eimern ein Karez-System angelegt, traditionelle unterirdische Kanäle, die Grundwasser aus höher gelegenen Hängen auf ihre Felder fließen lassen. Sie pflanzten Bäume, die mittlerweile Schatten spendende Größe erreicht haben, und mit den Jahren wurde der Boden fruchtbarer. »Das hier ist mein Leben«, sagt der 66-Jährige mit zitternder Stimme und Tränen in den Augen: »Wie soll ich das aufgeben?«
»Jetzt herrschen wieder Recht und Ordnung«: Die Taliban-Regionalchefs in Gizab empfangen den SPIEGEL. Links sitzt Mullah Ahmed Schah, der Infrastrukturchef, rechts sitzt Sicherheitschef Mullah Abdulrahim Maywand.
Wochen bevor sie Kabul einnahmen, eroberten die Taliban Daikundi. Als die Aprikosen im Juni reiften, war es noch ruhig. Doch schon zur Weizenernte im Juli habe er schlecht geschlafen, erinnert sich Ya Mohammed, als die ersten Kämpfer in den Dörfern einfielen und vereinzelte Häuser von Beamten und Armeeangehörigen sprengten. Da hoffte er noch, dass der Sturm vorüberziehen werde.
Als das Taliban-Kommando mit dem Ultimatum einrollte, war ihm klar, dass niemand verschont würde. »Sie sagten, der wahre Besitzer habe beim Taliban-Gericht Dokumente vorgelegt, die seine Besitzansprüche belegten«, erinnert er sich an die Ansprache der Eindringlinge. »Sie hielten ein Dokument hoch. Aber niemand durfte näherkommen, es lesen oder gar fotografieren.«
Er und die anderen Bauern würden sich legal wehren wollen, friedlich, vor Gericht. Dem Gericht der Taliban. Nur, dass an dessen Neutralität hier niemand glaube. Bewaffneter Widerstand wäre Selbstmord, »außerdem haben die Taliban mir schon letztes Mal, als sie vor fast 30 Jahren herrschten, meine drei Kalaschnikows abgenommen, die ich als junger Mann besaß«. Seither habe er keine Waffe mehr angerührt, »wozu auch? Hierher kam doch keiner«.
Wenn sie nun vertrieben würden aus ihrem Tal, »wohin sollen wir dann gehen?«, fragt er halblaut, »wenn die Paschtunen jeden Ort, alles fruchtbare Land hier an sich reißen wollen, werden wir weit und breit nirgends mehr willkommen sein«.
Sein Nachbar Said Iqbal, das Oberhaupt des letzten Dorfs vor dem Talende, ist extra für einen Tag zurückgekommen aus seinem Versteck: »Wenn ich und die Vorsteher der anderen Gemeinden hier sind, während die Taliban wiederkehren, werden sie uns mit Gewalt zwingen, Verzichtsurkunden zu unterschreiben oder zumindest mit einem Daumenabdruck zu besiegeln.« Das wollten sie mit ihrer Flucht verhindern.
Nun hat er sich mit der Familie vor dem Haus aus Lehm versammelt. Auf einem strohgedeckten Dach trocknen Maulbeeren, Trauben und Tomaten in der Nachmittagssonne. Ein Kalb zieht an seinem Seil. Hühner flattern umher. Aus der Küche quillt Rauch unter das rußgeschwärzte Vordach. Iqbals Stiefmutter, eine Frau mit Nasenring und blauen Augen, reicht Granatäpfel, Trauben, Brot und heiße Milch mit Honig. Iqbal zuckt mit den Schultern. Bei aller Eile und Not müsse trotzdem Zeit sein, die Gäste zu bewirten.
Dann beginnt er zu erzählen: Vor einem halben Jahrhundert seien sein Großvater und einige andere aus dem Dorf Sahor in das damals unwirtliche Tal gekommen. Vorher habe jeder die Gegend gemieden, hätten Räuber durchziehende Händler und sogar Hirten überfallen. Es klingt, als spräche er von vergangenen Jahrhunderten, aber er meint die Zeit vor den Siebzigerjahren.
Sie könnten durchaus beweisen, dass das Land ihnen gehöre, sagt er und schickt eines der Kinder, das Besitzdokument zu holen. Ein gefalteter A5-Zettel mit Kugelschreiber beschrieben und Fingerabdrücken, ausgestellt etwa 1983 für seinen Vater Haj Nour Mohammed. Unterschrieben ist der Zettel von einem Mudschahidin-Kommandeur namens Said Mohammed Hassan Malawi. Es gebe, sagt Iqbal, im Tal von Tagabdar 24 solcher Besitzzettel für 24 Gemeinden, die jeweils einem Bewässerungskanal zugeordnet seien.
Nur dass es 1983 keine Staatsmacht gab, die überall im Land anerkannt war. Eine Regierung von Moskaus Gnaden saß in Kabul, die aufständischen Mudschahidin kontrollierten weite Teile des Landes. Die Zerrissenheit Afghanistans hat seither immer wieder neue Willkür hervorgebracht, einen Teufelskreis aus gegenseitiger Vergeltung der wechselnden Sieger, der nun mit jäher Härte die Dörfer von Daikundi trifft. »Aber unsere Papiere hat doch jede folgende Regierung anerkannt«, hält Said Iqbal entgegen, »die Taliban damals, später Karzai, Ghani, alle.«
Dieses Gebäude in Gizab wurde im Krieg zwischen den Taliban und den vormaligen Regierungstruppen beschädigt
Dieser Tage sei schon vor dem Ultimatum ein alter paschtunischer Bekannter aus einem Dorf in der Nähe vorbeigekommen, um ihm lächelnd zu drohen: »Wir haben euch Hazara immer in Ruhe gelassen, auch damals, als die Taliban herrschten. Aber dann haben wir gesehen, wie ihr den Amerikanern geholfen habt! Der Regierung in Kabul! Wie ihr Demokratie und Unglauben verbreitet habt. Damit habt ihr euer Daseinsrecht verwirkt! Nun dürfen wir euch alles nehmen, sogar das Leben. Also gebt freiwillig auf und verschwindet von hier.« Dann sei er gegangen.
Die Furcht vor den Paschtunen, der Staatsmacht, hat die Hazara nie wieder losgelassen seit den Grauensjahren vor mehr als einem Jahrhundert. Als die Taliban nun im August abermals die Macht eroberten, flohen Tausende Hazara ins Ausland, selbst in ihrer Hochburg Bamian hielten sich anfangs viele versteckt. »Wir trauen dem Frieden nicht«, sagen sie fast unisono bis heute, auch wenn in Kabul und anderen Großstädten bisher keine offenen Übergriffe bekannt wurden. Doch auf dem Land sieht es anders aus.
Viele in den verstreuten kleinen Dörfern entlang des Tals erzählen ähnliche Geschichten von kaum verhohlenen Drohungen, einer angeheizten Pogromstimmung. Ausgerechnet die Taliban selbst allerdings agieren raffinierter. Sie schüren die Stimmung, tun jedoch so, als hätten sie damit gar nichts zu tun. Denn jener angebliche Besitzer all der Ländereien im Tal von Tagabdar, dessen Anspruch die Taliban so vehement durchsetzen wollen, ist möglicherweise gar kein Paschtune, sondern ein Schiit, wie jene Hazara, die in seinem Namen vertrieben werden sollen.
Der Großgrundbesitzer Zahir Khan, dessen Anwesen am Hang des mittleren Talabschnitts thront, hat, so berichten es die Dorfbewohner, seit Jahren heimlich die Taliban unterstützt. Einer seiner Verwandten ist die rechte Hand des neuen Taliban-Gouverneurs der Provinz Daikundi. Schon im Juli, sagen die Dorfbewohner, hätten sie ihn dabei beobachtet, wie er zusammen mit drei mit Kalaschnikows bewaffneten Talibankämpfern das Haus des ehemaligen Schuldirektors Mohammadi in die Luft gejagt habe.
Nun will der mit den Taliban verbündete Nachbar offenbar die Rendite seines Engagements einstreichen und sich die Ländereien einverleiben. Bei einigen der Ultimatumsverkündigungen seien er oder sein Vater selbst zugegen gewesen, hätten gedroht, noch die Gebeine der Vorfahren auf dem Friedhof ausgraben und beseitigen zu lassen, wenn die Lebenden nicht freiwillig abzögen. Es interessierte die Machthaber nicht, dass manche der Bauern Steuerquittungen für ihre Äcker oder Kaufverträge vorlegten, in denen ihr rechtmäßiger Landbesitz sogar vom angeblichen Besitzer Zahir Khan selbst per Unterschrift bestätigt wurde.
Mohammed Sufi, ein Dorfältester aus Dahan-i-Nala: »Auf unser Land erheben gleich zwei Personen Anspruch«
Ob die Taliban sich selbst bereichern oder dies ihren Anhängern erlauben im Austausch für politische Loyalität, für die Hazara-Bauern bedeutet es dieselbe Erfahrung wie früher: Menschen zweiter Klasse zu sein, für die das Recht nicht gilt.
Auf dem Weg wieder heraus aus dem Tagabdar-Tal warten kurz vor der Dämmerung zwei Männer im Schatten mächtiger Platanen, um uns ins Lorashiw-Tal zwei Wegstunden entfernt zu bringen. Es wäre nicht gut, bei dieser Recherche den örtlichen Taliban zu früh über den Weg zu laufen. Es sei besser, nirgends lange zu bleiben und eher spät dort anzukommen, wo man die Nacht verbringt. Ein heikler Zickzack-Parcours zwischen den Fronten. Der Ort des Treffens in Dahan-i-Nala, einem der ersten Dörfer des Lorashiw-Tals, liegt auf einer kleinen Wiese zwischen den erntereifen Maisfeldern. Das sei sicherer, auch für die Nacht. Falls plötzlich die Taliban kämen.
Auch aus Dahan-i-Nala sollen die Bauern verschwinden. Auch hier hat das Taliban-Gericht in der Kreisstadt Gizab überraschend festgestellt, dass die Maisfelder und Obstgärten gar nicht jenen Familien gehörten, die sie vor zwei Generationen angelegt haben und seither dort leben. »Doch auf unser Land erheben gleich zwei Personen Anspruch«, setzt Mohammed Sufi, einer der Dorfältesten, an zu erklären: »Eigentlich sind es sogar drei, aber von einem haben wir nichts mehr gehört.« Beide sind Paschtunen, die sich auch gar nicht mehr die Mühe gaben, ihre Ansprüche zu dokumentieren, sondern gleich mit ihren Taliban-Kontakten drohten. Es ist eine Geschichte, wie sie in der Gegend nun gang und gäbe ist. Zwei Gäste, extra angereist aus dem zweieinhalb Fahrstunden entfernten Dorf Kindir, erzählen, was mit ihnen geschah, als sie zum Taliban-Gericht kamen.
Sie hätten vom Gericht vor Wochen die Aufforderung bekommen, dass die Dorfältesten dort zu erscheinen hätten. Ohne dass klar war, worum es überhaupt ging. Sieben Repräsentanten machten sich auf den Weg in die Kreisstadt Gizab. »Wieso nur ihr sieben?«, habe der Richter gefragt – und sie alle einsperren lassen. Drei säßen immer noch im Gefängnis. Das habe nichts mit Scharia-Recht zu tun, das sei bloße Willkür.
Der unterirdische Bewässerungskanal wurde mit der Hilfe von Spiegeln gegraben
Beim Tagesanbruch wollen die Ältesten von Dahan-i-Nala noch den Stolz, die Daseinsgrundlage ihres Dorfes zeigen: ihren Karez, den fast einen Kilometer langen unterirdischen Kanal, der die Felder und Gärten des Dorfs mit Wasser versorgt. Ende der Achtzigerjahre hätten sie angefangen, den 20 Meter tiefen Brunnenschacht auszuheben, dann den Graben für den überdachten Kanal. Das Konzept ist seit der Antike aus Iran und dem Nahen Osten bekannt, Grundwasser in höheren Lagen anzuzapfen und mit leichtem Gefälle talwärts fließen zu lassen. Auch der Bau in Dahan-i-Nala entsprach noch weitgehend antiker Technik: »Fünf Jahre haben wir daran gearbeitet«, erzählt Mohammed Sufi stolz beim Gang entlang der Erdhügel, »mit Schaufeln und Eimern, in drei Reihen übereinander, jeweils mehr als 100 Mann.«
Um am Schachtende noch Licht zu haben, hätten sie Spiegel auf dem Basar in Gizab gekauft, sie so ausgerichtet, dass stets Sonnenlicht in die Grube gelenkt wurde. »Ein Mann war nur für das Ausrichten der Spiegel verantwortlich«, jahrelang. Einmal, Anfang der Neunzigerjahre, seien Taliban vorbeigekommen, hätten die Baustelle gesehen und mit einer Mischung aus Respekt und Schaudern gesagt, sie würden so etwas nicht bauen.
»Könnt ihr in Gizab fragen, was aus unseren drei Brüdern geworden ist, die immer noch dort gefangen sind?«, fragen die Dorfältesten zum Abschied.
Der Weg nach Gizab ist eigentlich nicht weit, aber wie immer in dieser Gegend ein aufreibender Parcours um Bergspitzen und Schluchten, sechs Stunden Pistenfahrt, bis sich eine weite Ebene öffnet.
Die Kreisstadt liegt idyllisch inmitten des größten Tals der Umgebung, einer weitläufigen, grünen Oase zwischen den Wüstenbergen. Doch der Ort selbst strahlt eine Atmosphäre zwischen Italowestern und Endzeitfilm aus. Das Regierungsgebäude der Bezirksverwaltung ist eine zerschossene Ruine, neben der die Wracks gesprengter, von Kugeln zersiebter grüner Polizei-Pick-ups herumliegen.
Auf der anderen Seite der staubigen Hauptstraße steht ein einsames, großes Gebäude: die Mädchenschule. Es heißt, der Bau sei 2002 von der amerikanischen Hilfsorganisation Mercy Corps als Mädchenschule erbaut, allerdings nie genutzt worden. Weil wegen der Traditionen niemand seine Tochter dorthin schickte. Und weil die Taliban, schon früh wieder mächtig in Gizab, es verboten.
Stattdessen wandern nun Männer nach Sonnenaufgang hinter die an mehreren Stellen zerborstene Schulmauer. Und hinterlassen ihre morgendlichen Kothaufen auf dem Zementstreifen an der Mauer, sichtgeschützt. Wie eine endlose Reihe brauner Miniaturpagoden reiht sich Haufen an Haufen. Gleichgültiger, krasser lässt sich Verachtung für die ausländische Bildungshilfe kaum ausdrücken.
»Geldverschwendung« sei der Bau gewesen, sagt der Wirt des einzigen Hotels, einer Halle mit Einschusslöchern an den Wänden. Das Gericht? Das tage morgens ab acht in der Ruine der Bezirksverwaltung nebenan, sagt er.
Die Gerichtsverhandlung wirkt wie eine Miniaturversion Afghanistans
Ein Drittel des Gebäudes besteht nur noch aus Trümmern, herunterhängenden Stahlarmierungen, behelfsmäßig abgesperrt mit Mörtelbrocken. Erst hätten die Taliban es im Frühsommer erobert, sagt ein Posten, dann hätte die Luftwaffe der Regierung es mit Raketen beschossen, um die Taliban zu treffen.
Auf sieben Sofas, manche ebenfalls zerfetzt, nehmen nach und nach die Antragsteller und Hilfesuchenden Platz. »Landraub«, sagt der Erste auf die Frage nach dem Grund seines Kommens. »Landraub«, sagt der Zweite. »Landraub«, sagt der Dritte.
Jählings seien seit der Machtübernahme der Taliban Männer gekommen, erzählen sie, hätten auf ihre guten Beziehungen zu den neuen Herrschern verwiesen. Und dann Anspruch auf die Felder jener erhoben, die nun auf den zerschossenen Sofas sitzen und auf Gerechtigkeit hoffen. Die Kontrahenten beider Parteien sind an jenem Morgen Paschtunen. Hier geht es nicht mehr um eine Kampagne gegen andere Ethnien, sondern nur noch um Gier und Gesetzlosigkeit.
Diese willkürlichen Raubversuche, das ganze Setting inmitten der zertrümmerten Verwaltungshalle wirken wie eine Miniaturversion Afghanistans. Wie die großen Machtblöcke verhalten sich auch Einzelne, sie nutzen den Moment der eigenen Stärke, sich zu bereichern, und zerstören damit letztlich das Land.
Die Anweisung der Taliban-Führung, dass ausländische Journalisten mit größter Zuvorkommenheit zu behandeln seien, hat sich allerdings selbst bis hierhin herumgesprochen: »Seien Sie uns herzlich willkommen!«, begrüßt der eintreffende, kurz irritierte Taliban-Polizeichef das SPIEGEL-Team. »Im Ausland werden wir ja kaum als Menschen angesehen, umso mehr freuen wir uns, dass Sie hier sind, sich selbst ein Bild zu machen! Was auch immer Sie brauchen, Tee, Melonen, eine Sicherheitseskorte in die Provinzhauptstadt, sagen Sie Bescheid!«
Alle haben Zeit, der Bezirksgouverneur, der Geheimdienstchef und auch der Richter, der die Vertreibungen und Landnahme angeordnet hat. Möbel gibt es keine im Raum, »die wurden gestohlen«. Ein Talib mit hennaroten Fingernägeln serviert grünen Tee, dann präsentiert der Bezirkschef seine Version der Dinge: »Diese Hazara sind ja vor 40 Jahren hier eingefallen, haben viele ermordet, Frauen vergewaltigt, sogar Menschen bei lebendigem Leibe gehäutet. Also, das sind gefährliche Kriminelle«, er redet tatsächlich von den Bauern in Tagabdar und den anderen Dörfern, »da hat sich in den vergangenen Jahren kaum jemand hingetraut. Aber jetzt herrschen wieder Recht und Ordnung!«
Es ist der klassische Schritt eines Entrechters, sich mit den haarsträubendsten Erfindungen selbst zum Opfer zu erklären. Damit schafft er neue Opfer, nährt den Hunger nach Vergeltung. Der afghanische Teufelskreis, er setzt sich in dieser fernen Bergprovinz langsam wieder in Bewegung.
Richter Maulawi Mohammed Daoud übernimmt: »Zahir Khan«, der Großgrundbesitzer aus Tagabdar, »hat überzeugende Besitzurkunden noch aus den Tagen der Monarchie vorgelegt. Wir haben hier einen eindeutigen Landraub!« Von den Urkunden, die niemand in den Dörfern gesehen hat, habe er leider keine Kopien vorliegen, »aber ich habe sie gesehen«. Auch die Katasterregistratur von Gizab sei bedauerlicherweise bei den Kämpfen zerstört worden. Aber in einem solch gravierenden Fall von Landraub schreibe das Scharia-Recht die sofortige Rückgabe vor.
Sollten die Vertriebenen nicht einverstanden sein, »können Sie sich ja einen Anwalt nehmen und in Kabul Klage einreichen«.
Und die Gefangenen aus dem Dorf Kindir, fragen wir, was mit denen sei? »Ja, da hatten wir drei Leute hierbehalten, als Pfand. Aber die haben wir vor Tagen schon wieder freigelassen.«
Eine Stunde nach dem Termin beim Richter stolpern die drei Männer auf der staubigen Hauptstraße dem lokalen Fahrer des SPIEGEL-Teams entgegen. Sie sagen, sie seien ohne Angabe von Gründen soeben laufen gelassen worden.
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